Ferdinand von Schirach in China
?Das B?se in Reinform gibt es nicht“ Exklusiv
Wie sind Sie auf den Stoff gekommen?
Ich hatte erstmals in meinem Studium von dem Thema geh?rt. In Deutschland fanden 1945 die Nürnberger Prozesse gegen die Hauptkriegsverbrecher statt. Man kann es nur mit Bewunderung betrachten, dass die Geschichte in so kurzer Zeit aufgearbeitet wurde. Unter den Angeklagten war auch mein eigener Gro?vater, der ehemalige Reichsjugendführer Baldur von Schirach. Sp?ter wurde die Verfolgung der Kriegsverbrecher auf die BRD übertragen. Doch das Problem bestand darin, dass sich das Personal der Nazis nicht von dem der BRD unterschied. Die gleichen Richter und Anw?lte sollten dann über die NS-T?ter richten. Die Urteile waren furchtbar milde und manchmal komplett grotesk.
Ferdinand von Schirach (Foto: Ren Bin)
Sie sagen, dass es den b?sen Menschen nicht gibt, sondern nur die b?se Tat. Was ist ihre Definition für das B?se?
Wenn ich diese Frage beantworten k?nnte, müsste ich den Nobelpreis erhalten! In der Philosophie wird dieses Thema schon seit 3000 Jahren diskutiert, und es gibt sicherlich keine Antwort, der alle zustimmen k?nnen. Augustinus hat zum Beispiel gesagt, das B?se ist wie ein Loch im Boden. Für Hannah Arendt ist das B?se nicht wie in einem Thriller, wie Hannibal Lecter. Das B?se ist banal und kommt am Schreibtisch zum Vorschein. Adolf Eichmann zum Beispiel t?tete 50.000 Menschen durch eine Unterschrift.
In meiner Karriere als Strafverteidiger habe ich nie einen reinen b?sen Menschen oder einen reinen guten Menschen gesehen. 80 Prozent der Verbrechen sind Beziehungstaten, werden also von Menschen verübt, die sich kennen. Das B?se tritt meist graduell auf. Stellen Sie sich vor, ein Paar sieht gemeinsam fern. Er will einen Actionfilm sehen, sie eine Varieté-Show. Das Paar beginnt zu streiten, dann schreien sie sich an. Das Anschreien ist schon eine Form der Gewalt. Dann ist der Weg nicht mehr weit, jemanden zu schlagen oder das Messer rauszuholen. T?ter berichten mir oft, dass sie sich wie in einem Tunnel gefühlt und keinen Ausweg mehr gesehen haben. Wenn Sie in der Zeitung von einem schrecklichen Mord erfahren, dann denken Sie daran, dass es sich immer noch um Menschen handelt, auch wenn der T?ter ein Verbrechen begangen hat. Es ist einfach zu sagen, der T?ter verdiene es nicht, zu leben, aber viele Taten haben eine lange Geschichte. Vor ein paar hundert Jahren hatten wir noch ein Tatstrafrecht, es kam damals nur auf die Tat an, nicht auf den Menschen. Damals sagte man, wenn einer einen Apfel gestohlen hat, dann muss die Hand, mit der der Diebstahl ausgeführt wurde, abgeschnitten werden. Heute fragen wir nach dem Grund für die Tat. Vielleicht hatte der Dieb Hunger, vielleicht war ihm der Apfel zuvor von jemand anderem gestohlen worden, vielleicht war der T?ter krank. Wir verurteilen Menschen nur nach seiner individuellen Schuld, und das ist ein Fortschritt in der Entwicklung des Rechts, der durch die Geschichte der europ?ischen Aufkl?rung entstanden ist.
Die meisten Verbrechen mit denen ich zu tun hatte, entstehen aus Verzweiflung. Es gibt b?se Taten und gute Taten, aber man kann nicht sagen, dass die menschliche Natur b?se ist. Und b?se Taten ?ndern auch nichts an der Würde des Menschen. Au?erdem ist es der Mensch, den ein Rechtsanwalt verteidigt, und nicht die Tat.
Sie beschreiben in ihrem Werk Rechtsanwalt Leinen, der akribisch und gewissenhaft nach dem Tatmotiv seines Mandanten sucht, obwohl der gar nicht kooperieren will. Am Ende gelingt Leinen dann die spektakul?re Wende im Prozess, der T?ter scheint moralisch rehabilitiert, das Opfer steht als Kriegsverbrecher am Pranger. Sieht so die Realit?t in deutschen Gerichtss?len aus?
Nein, das ist natürlich ein fiktiver Fall, aber es passiert auch in gro?en Strafprozessen immer wieder,dass man eine Umkehrung der Positionen hat. Ich stimme Ihnen auch nur insofern zu, dass Collini moralisch gerechtfertigt ist, nicht juristisch. Das Buch ist kein Aufruf zur Selbstjustiz. Was eine Rolle spielt, ist die Frage, in wieweit Menschen sich auch nach falschen Gesetzen richten müssen. In den Nürnberger Prozessen ist erstmals entschieden worden, dass ein gegen die Grundrechte versto?endes Gesetz oder Befehl nicht befolgt werden darf, dass man sich damit sogar strafbar machen kann, zum Beispiel, wenn man auf Menschen schie?t, die friedlich demonstrieren. Aber das ist ein ganz extremer Ausnahmefall. Wir müssen uns an die Gesetze halten und ein Gesetz verdient Beachtung.
Ist Caspar Leinen auch eine Verk?rperung von Ihnen selbst?
Ja, ich habe zwei Bücher verfasst, Collini und Tabu, das noch nicht auf Chinesisch übersetzt ist, und beide sind in gewissem Ma?e eine Verk?rperung von mir selbst.
Aus welchem Grund schweigt Collini zu seinem Motiv, hat er das Vertrauen in die Justiz verloren?
Nach dem Buch ganz sicher. Er hat alle M?glichkeiten ausgesch?pft, um Gerechtigkeit zu bekommen, und das entspricht auch der Wirklichkeit. Es gibt immer Angeklagte, die wollen schweigen, aus Scham, aus Schuldgefühlen oder aus ganz anderen Gründen. Das ist nichts vollkommen Ungew?hnliches.
Der Fall Collini soll im April in die Kinos kommen, hatten Sie Einfluss auf die Produktion des Films?
Nein, darauf nehme ich grunds?tzlich keinen Einfluss. Aus meinen Stoffen sind ja mittlerweile 30 Filme entstanden. Der Film ist eine andere Kunstform und ich finde es ein bisschen l?cherlich, wenn da ein Schriftsteller ruml?uft und Anweisungen gibt. Ich habe den Film gesehen. Er ist wirklich beeindruckend und hervorragend geworden. Der Hauptdarsteller ist Elyas M’Barek, ein Mann, den man eigentlich nur aus Kom?dien kannte. Doch als ich ihn auf der Leinwand gesehen habe, war ich sehr beeindruckt von seiner Pr?senz und Ernsthaftigkeit. Es spielen auch tolle Schauspieler mit, Franco Nero zum Beispiel, ein alter Italiener, der in den 60er-Jahren in allen Django-Filmen mitgespielt hat. Allein sein Gesicht ist unglaublich. Es ist ein berührender Film. Er macht Kompromisse, das muss ein Film ja auch, aber das ist für mich vollkommen in Ordnung、
Vielen Dank für das Gespr?ch!
Die Fragen stellte Felix Lehmann. Einzelne Fragen stellte Ren Bin.